Marsch über Tilff (Link zur Französischen Wikipedia) nach Lüttich. Unterwegs Einnahme eines Forts. Verpflegungs- und Quartiersorgen.
Halb 8 Uhr vormittags. Wie es heisst, stehen hinter Lüttich 150 bis 200.000 Belgier und Franzosen, die sich zur grossen Feldschlacht rüsten. Von unseren Truppen sollen 6 Armeekorps aufmarschiert sein. Das 2., 3., 7., 11. und 12.
Die Zahl unserer Kräfte ist zweifellos überlegen. Der Feind scheint dies zu fühlen. Sein Widerstand ist weit schwächer geworden. Das letzte Fort östlich Lüttichs, welches von der 30,5 cm Batterie beschossen werden sollte, hat sich sogar gestern abend ergeben, ehe noch ein einziger Schuss aus diesen schweren Geschützen abgefeuert worden war.
Die vorherige Ankündigung der Beschiessung durch einen Parlamentär hatte genügt.
Das ist uns durchaus willkommen. Wir sparen so nicht nur Zeit, Munition und Blut – auch die in den Forts massenweise aufgespeicherten Lebensmittel fallen unversehrt in unsere Hand. Und davon können wir im Augenblick sehr viel gebrauchen.
Gestern wurde bereits ein Teil der Vorräte von den einzelnen Regimentern abgefahren. Hauptsächlich waren Konserven vorhanden. Wir hätten es gern gesehen, wenn für unsere Gäule etwas Fressbares mit abgefallen wäre. Da dies aber nicht der Fall war und auch in dem Ort unseres Nachtquartiers nichts mehr aufgetrieben werden konnte, mussten wir zum ersten Mal unsere eisernen Futter-Portionen angreifen.
Im übrigen können wir von eigentlichen Nahrungssorgen kaum sprechen. Die Welt ist nur in diesen Dingen zurzeit ein wenig auf den Kopf gestellt.
Während wir an Fleisch verhältnismässig leicht kommen, ist Brot nirgends aufzutreiben. In jeder Ortschaft, die wir berühren, beginnt ein förmliches Kesseltreiben um diese kostbare Gabe. Und wo wir hinkommen, tönt uns bereits die Parole “pain – pain” entgegen, manchmal mit geringem, meist jedoch mit “ohne” Erfolg. Dann bleibt uns nichts weiter übrig, als nach dem Grundsatz zu handeln: “In der allergrössten Not – schmeckt die Wurscht ooch ohne Brot!” Aber, ich danke doch bestens für diese Weisheit, wenn sie sich Tag für Tag wiederholt.
An unserem Munitionswagen ist die Sorge um das tägliche Essen – soweit nicht die Feldküche in Frage kommt – so geregelt, dass jeder der Bedienung das von ihm gekaufte oder sonst wie “besorgte” Gut in den gemeinsamen Pott abgibt, von dem aus es dann von dem Wagenführer gerecht und gleichmäßig an alle verteilt wird.
Die Selbsthilfe spielt in den Tagen des Vormarsches natürlich eine große Rolle und treibt oft sonderbare Blüten. Sogar das auf den Weiden in grossen Herden lagernde Vieh bleibt nicht mehr ungeschoren. Milch fliesst in Strömen. Den Tieren ist es recht, dass wir sie von ihrem Überfluss befreien. Und die Kameraden tun gerade, als ob sie ihr Lebtag lang Kühe gemolken hätten. Bliebe uns Zeit und Gelegenheit, so hätten wir bald die schönste Molkerei mit Butter und Käse im Gange.
Mit der Bevölkerung werden wir gut fertig. Die Verständigung vollzieht sich in origineller Weise und besteht aus einem gebrochenen Deutsch ihrerseits und einem französischen Kauderwelsch unsererseits, wobei die fehlenden Worte und Begriffe durch wilde Gebärden mit Händen und Füßen und Mund ersetzt — und meist noch am besten verstanden werden.
Ich glaube allerdings, dass unser mitunter schon recht räuberisches Aussehen ganz ungewollt ein wenig nachhilft.
Die Kleidung ist über und über verstaubt und verdreckt. Die von der Sonne stark gebräunten Gesichter konnten während der vergangenen 8 Tage noch nicht rasiert werden. Der Übergang vom Flaum zum Vollbart aber wirkt scheusslich. Selbst Waschen wird Luxus. Hände und Gesicht bekommen eben noch ein paar Tropfen ab. Das ist alles.
An Wäschewechsel ist nicht zu denken. Mein Hemd ist schon steif wie ein Brett und wird doch noch einige Tage aushalten müssen, denn es wäre zwecklos von dem Reservehemd, das ich bei mir führe, Gebrauch zu machen. Schon morgen würde es aussehen wie das andere. Jedenfalls, die Fußlappen, die ich heute zum ersten Mal seit Köln von den Füßen nahm, waren wenig appetitlich.
Unser täglicher Marsch in den Staubwolken der Fahrzeuge ist ebenfalls alles andere als nur ein Spaziergang durch das Belgierland.
Jetzt sind wir bereits eineinhalb Stunden unterwegs und befinden uns in Tilff. Noch zwei Kilometer Marsch, dann sollen wir in Stellung gehen.
Hier im Ort wird uns eine besondere Freude zuteil. Wir haben drei Restaurants aufgestöbert, in denen es Dortmunder und Wicküler Bräu, also deutsches Bier gibt. Auch dies gehört schon zu den Entbehrungen des Feldzuges. Darum lassen wir uns in aller Hast schnell eins einzapfen.
Die Einwohner sind aus ihrem Alltagsleben herausgerissen. Sie haben die Arbeit aus der Hand gelegt, sitzen untätig zu beiden Seiten der Straße — und glotzen uns an, als wären wir von einer anderen Welt.
10 Uhr Vormittags. Tilff liegt schon wieder hinter uns. Wir haben inzwischen eine steile Anhöhe mit vielem Schweiss erklommen, um dort zusammen mit zwei anderen Haubitzbatterien und einem Mörserbattailon in Stellung zu gehen und ein noch nicht genommenes feindliches Fort zu beschießen. Während wir aber noch mit der Beseitigung der Straßenhindernisse und dem Einfahren der Geschütze beschäftigt sind, bringt bereits ein hundertstimmiges Hurra unserer Truppen die Nachricht von der Übergabe des Forts.
Wir kehren deshalb wieder um und schlagen den direkten Weg nach Lüttich ein, das nur noch 10 km von hier entfernt sein soll.
5 Uhr Nachmittags: Endlich sind wir in dem schon oft erwähnten Liège (Lüttich) eingerückt. Wir bauen in einer Vorstadt mitten auf dem Bürgersteig unsere Zelte auf. Anschließend gehen wir zur Stadt, um Speck und Wurst zu kaufen.
Ein schwieriges Geschäft. Wo wir hinkommen, gähnende Leere – alles verkauft oder auch wohl für alle Fälle verstaut.
Nach vielem Hin und Her entdecken wir in einer kleineren Warenhandlung das Vielgesuchte. Wir kommen jedoch nicht zum Kauf. Der Ladeninhaber verlangt für 1 kg Wurst entweder 3 Franken oder — 3 Mark. Das können und wollen wir nicht erschwingen.
Wieder geht es kreuz und quer. Schließlich gelingt es uns, in einer Fleischerei 9 Pfund Speck für 7,40 Mark zu erstehen.
Deutsches Geld wird gern genommen. Die Umrechnung des Frankenpreises macht aber eine Menge Schwierigkeiten. Die Belgier wollen gar nicht begreifen, dass ihre Geldeinheit – der Franc – weniger wert sein soll als unsere Mark. Es bedarf erst der ganzen Überredungskunst eines alten weißhaarigen Herrn, der zum Glück auch die deutsche Sprache beherrscht, ehe wir uns mit dem Verkäufer einig werden können.
Nach der Rückkehr zur Batterie erfahren wir, dass wiederum ein Fort der Festung Lüttich in die Luft gesprengt worden ist. Über unsere morgige Aufgabe ist noch nichts bekannt. Jedenfalls werden wir aber wohl endlich einmal den vielen tausenden Franzosen und Belgiern hinter Lüttich auf den Pelz rücken.
Der nächste Beitrag erscheint am 16.08.