22.8.1914 Marsch über Venettes (Seneffe?), Mt. Jolie bis Haine St Piérre. (Link zur französischen Wikipedia) Batterie-Radfahrer aus dem Hinterhalt erschossen. Requisitions-Kuriositäten.
4 Uhr Nachmittags: Wir sind seit 6 Uhr morgens auf den Beinen. Unterwegs berührten wir den Ort Venettes (Seneffe?). Dort standen noch eine Menge belgischer Lokomotiven unter Feuer, denen der Weg nach Frankreich kurz vor der Abfahrt durch unsere Truppen versperrt worden war.
Jetzt liegen wir bereits eineinhalb Stunden in Mt. Jolie, etwa 20 km von der belgisch-französischen Grenze entfernt, und haben soeben unser Mittagessen (Kartoffelsuppe mit Rindfleisch) eingenommen.
7 Uhr Abends: Wir sind nicht mehr vor den Feind gekommen, sondern beziehen in Haine St. Piérre in der mit 4 Reihen Bäumen besetzten, gegen Fliegersicht tadellos eingedeckten, Schloss-Allee Biwak.
Der während des Vormarsches infolge der übergroßen Anstrengungen eingetretene Mangel an Pferden (2 tote und 6 lahme) ist inzwischen behoben. Wir haben eine gleiche Anzahl der auf den Weiden frei umherlaufenden Tiere eingefangen und angeschirrt. Als heute ausserdem noch einige Gäule “gegen Requisitionsschein” erstanden werden sollten, war die Weltgeschichte um einen Witz reicher.
Der Besitzer der Tiere lehnte die Annahme des für ihn zweifelhaften Geldersatzes dankend ab und zeigte stattdessen dem beauftragten Offizier noch einige aus dem Kriege 1870/71 stammende gleiche Scheine, die bisher weder von der eigenen noch von der deutschen Regierung eingelöst worden waren.
Der Gutsbesitzer war also durch die Erfahrung bereits gewitzigt — nicht so ein biederer Uhrmacher, der sich bei uns erkundigte, wo er den erst vor wenigen Tagen erhaltenen Requisitionsschein eintauschen könne. Wir vermochten ihm leider keinen Rat zu geben, denn auf diesem stand: “Gut für eine Taschenuhr. Ulan Richter.”
Bisher sind wir fast sorglos in der Weltgeschichte herumgetappt. Dass es so nicht ewig weitergehen wird, beweist uns folgender Vorfall:
Einjähriger L., der uns als Radfahrer zugeteilt war, wurde schon seit 4 Tagen vermisst. Wir glaubten zunächst, dass er sich nur verirrt und einer anderen Truppe angeschlossen habe (was ja bei dem vielen Hin und Her ohne Mühe möglich gewesen wäre), bekamen aber heute Mitteilung, wonach L. auf einer Patrouillenfahrt aus dem Hinterhalt erschossen worden ist.
Sein Tod berührt mich mehr als die anderen Kameraden, da ich schon während der Friedensdienstzeit als sein Putzer meine liebe Not hatte, ihm über die Klippen des Militärlebens hinwegzuhelfen. Wie sollte das erst draussen im Felde werden? Und nun ist all’ meine Mühe und Sorge doch vergebens gewesen, denn dass er so schnell dran glauben musste, hat er bestimmt zu 90% seiner eigenen Tollpatschigkeit zuzuschreiben. Er tut mir trotz alledem leid.
Ehe wir uns zur Ruhe legen, gibt es noch einige neueste Kriegsberichte.
Unser Feldwebel erzählt unter anderem von der Gefangennahme zweier französischer Armeekorps bei Metz. Ob diese Angabe aber wirklich stimmt und woher er die Weisheit hat, ist mir unbekannt. Sie kann ebenso gut der Erguss der Obersten Heeresleitung als irgendeiner Zeitung sein. Ich traue der einen so wenig wie der anderen, denn beide verkohlen uns, wenn es darauf ankommt, nach Strich und Faden.
Ist es nicht wirklich komisch, dass wir von unseren Truppen bisher immer nur Erfolge und nie eine Schlappe zu hören bekommen haben?!
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 23.08.