Gedanken bei der Rückkehr zur Front aus dem 3. Kriegsurlaub
Wie die dritte Kriegsweihnacht, so gehört nun auch mein dritter Kriegsurlaub der Vergangenheit an.
Eine kurze Spanne Zeit, gemessen an der Ewigkeit dieses Krieges, vereinte mich mit meinen Lieben, mit Freunden und Bekannten. Alle waren sie bestrebt, mir frohe Stunden zu bereiten.
Ich hätte mich unter ihrer liebevollen Pflege und Fürsorge, unter den unendlich vielen Beweisen alter Freundschaft und Treue sichtlich erholen müssen. — Und dennoch, die innere Ruhe, die ich brauchte, um den ganzen Schlamassel an der Front einmal zu vergessen, fand ich nicht.
Die äußeren Freuden, die mir die Heimat bot und die schon merklich unter dem Zeichen der Knappheit in allen Dingen des täglichen Lebens standen, wurden gar schnell wieder verdrängt durch das düstere Bild der vergangenen Monde – und die Unwissenheit der Zukunft. Zum Schluss fand ich immer mehr, dass Sorgen und Leid überall wohnen — in der Heimat fast noch reichlicher als draußen an der Front.
So stand der Tag der Abreise plötzlich vor mir. Ich packte meinen “Affen” und — schob wieder ab.
Die Haustür schlug hart hinter mir ins Schloss. Der Traum der Heimat war zu Ende. Ich aber starrte geradeaus.
Es war das dritte Mal, dass mir Eltern und Geschwister “Auf Wiedersehen” zugerufen. Während ich mir sonst über die Bedeutung dieser Worte kaum Gedanken gemacht hatte, kroch jetzt auf einmal ein unbestimmbares Gefühl an mir hoch. Ich spürte, dass sie alle, die ich gern hatte und nun zurückließ, wohl von gleichen Gedanken bewegt sein mochten.
Doch der Trennungsstrich zwischen Elternhaus und Front war bereits gezogen. Ich wagte nicht, mich umzuschauen.
Der Zug entführte mich rasch den heimatlichen Gefilden. Bei meiner Ankunft in Leipzig war ich von aller Trübsal erlöst. Ein mehrstündiger Aufenthalt zwang mich zu anderen Überlegungen.
Mein Hab und Gut ließ ich am Gepäckschalter zurück. Dann schlenderte ich durch die Straßen der Stadt – ohne Wunsch und Ziel – und ließ mich von der buntbewegten Masse treiben. Wer weiß, wo ich gelandet wäre, hätte nicht plötzlich ein Kino mit seiner lichterfüllten Fassade sich vor mir aufgetan.
Ich trat ein, und nicht lange dauerte es, da war die Welt um mich herum versunken. Ein spannender Liebesfilm – ohne Bomben und Granaten – hatte mich in seinen Bann gezogen. Man herzte und küsste, als seien dies die wichtigsten Dinge der Gegenwart. Was Wunder, dass ich von ihnen mitgerissen und selbst Feuer und Flamme wurde.
Da aber pochte plötzlich wieder die Front kalt und grausam an mein Inneres. Mit einem Ruck fuhr ich hoch. Meine Stunde war gekommen. Ich musste fort, noch ehe das Gekose und Getändle auf der Leinwand — und im Dunkel der Stuhlreihen – zu Ende war.
Mich fasste ein unerhörter Jammer. War ich denn ein Verdammter, dass mich die langen Fangarme des Moloches Krieg so unerbittlich wieder an sich rissen? War denn niemand unter den Vielen vor, neben und hinter mir bereit, an meiner Stelle nach dem Westen zu fahren?
Bei diesem Abschied von der Heimat fühlte ich so recht die ganze Hoffnungslosigkeit meiner 25 Jahre. Die mannigfachen Bitternisse der Vergangenheit hatten sie von Tag zu Tag anwachsen lassen. Solange ich unter meinesgleichen draußen stand, tröstete ich mich mit ihnen. Nun aber, angesichts der heimatlichen Freuden und Genüsse brach sie unvermittelt durch — und schmetterte mich zu Boden.
Wo sollte der Weg noch hinführen? Kein Entrinnen, kein Entweichen aus den Eisenklammern der Front. Dieser Urlaub wiederum nur eine kurze Galgenfrist, bevor sich das Schicksal ohne Erbarmen – wie schon an so unendlich vielen meiner Kameraden – auch an mir vollziehen würde.
Hilflos suchte ich nach einem Ausweg und war nahe daran eine Torheit zu begehen, für die niemand Verständnis, geschweige denn ein Verzeihen gehabt haben würde. Doch da meldete sich zur rechten Zeit wieder das Pflichtgefühl.
Unbewusst war ich den Weg zum Bahnhof zurückgepilgert. Und wie ich aus meiner Versunkenheit aufschaute, stand – wie aus dem Erdboden gewachsen – schon ungeduldig fauchend und dampfend die nüchterne Eisenschlange vor mir, die mich wieder westwärts tragen wollte. Ich stieg ein – ein Pfiff – ein Ruck — ich hatte mich zurückgefunden.
Nun bin ich wieder an Ort und Stelle und der alte Wirklichkeitsmensch, der sich mit den Tatsachen abfinden muss. Wie daheim, so liegt auch hier Schnee. Der Winter scheint aber in dieser Gestalt ein seltner Gast Frankreichs zu sein. Während ich bei Muttern mit meiner “Käsehitsche” fidel den Schlossberg hinunterrutschen konnte, ist ein solches oder ähnliches Instrument hier nirgendwo aufzutreiben.
Vorläufig bleibe ich noch im Ruhequartier.
An der Front hat sich während meiner Abwesenheit – abgesehen von einem kleinen erfolgreichen Patrouillen-Unternehmen unsererseits bei Halle – nichts besonderes ereignet.
Dass die Engländer inzwischen die Franzosen in unserem Abschnitt abgelöst haben, will ich lediglich registrieren, um damit gleichzeitig unseren Schwur aus der Weihnachtsnacht 1914 wieder aufzufrischen.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 22.1.