Der schlimmste Tag des Rückzuges. Feindliches Artilleriefeuer in die eigene Marschkolonne. Überstürzter Aufbruch in der Nacht. Mit knapper Not der Gefangennahme entgegen. Endlich Halt beim Fort Brimont (Reims). Ein Fernsprechkamerad getötet. Ich springe in die Bresche.
Sonntag. Es ist halb 12 Uhr mittags und wir haben nordwestlich von Reims den ersten Schuss abgegeben.
Was wir aber seit gestern bis zu diesem Augenblick erlebten, wünschte ich mir kein zweites Mal und wünschte ich auch keinem, der augenblicklich sorglos daheim in Mutters Schoß ruht.
Da kann man mit Recht sagen “Das ist der Krieg!” oder, weil wir auf französischem Boden stehen: “C’est la guerre!”. Und dieser Fatalismus ist wohl der einzige – wenn auch nur schwache – Trost, der uns über das Furchtbare des Augenblicks hinweghilft.
Ich will versuchen, die inhaltsschweren Erlebnisse der letzten Stunden in wenige Worte zusammen zu fassen:
Als wir gestern gegen 4 Uhr nachmittags unsere Stellung südlich Maizy aufgaben, befanden sich bei uns Regimenter aller Waffengattungen von 2 Armeekorps. Es hieß allgemein, dass wir von ihnen abgelöst würden.
Die Sache wurde aber bald nicht nur für uns, sondern auch für die angeblichen Reservetruppen bedenklich; denn es dauerte nicht lange, da kam die neu in den Kampf geworfene Infanterie und Artillerie in Massen zurück. Obwohl scheinbar alles in Ordnung ging, konnte man ihnen doch eine gewisse Eile und Unruhe anmerken, die schnell ansteckend wirkte.
Ein Regiment nach dem anderen zog an uns vorüber. Immer dichter stauten sich die endlosen Kolonnen, Wagen, Pferde und Menschen auf der einzigen Abmarschstraße dieser Gegend zusammen.
Dann standen wir mit einem Male allein auf weiter Flur und glaubten schon, wir würden in Stich gelassen. Wie aber heißt es doch im Sprichwort: “Den Letzten beißen die Hunde!”. Wir legten keinen gesteigerten Wert darauf. Als deshalb auch für uns endlich der Befehl zum Abrücken kam, atmeten wir erleichtert auf.
Und, woran wir schon längst nicht mehr glaubten, das wurde dennoch möglich:
Wir konnten uns unbehelligt vom Feinde ablösen, wanden uns mit vieler Mühe durch die vollgestopften Straßen der Dörfer Fismes und Merval und strebten dann, gleich den anderen im Eiltempo dem Osten zu.
Noch war alles ohne Unfall abgegangen. Beim Einbruch der Dämmerung, gerade als wir das Dorf Merval verlassen hatten, ereilte uns jedoch das Verhängnis.
Die Franzosen mussten uns von den im Rücken liegenden Höhen beobachtet haben. Plötzlich schlugen links und rechts unserer Straße feindliche Granaten und Schrapnells ein.
Mit unserer Marschordnung war es aus. Wir begannen Trab, die Feldartillerie Galopp — und die Infanterie nahm die Beine in die Hand. Alles fuhr und lief querfeldein, um in und hinter dem seitwärts gelegenen Walde Deckung und Ordnung zu suchen.
Jetzt mochten sich wohl die Franzosen ins Fäustchen lachen, die uns reichlich heimzahlten, was wir ihnen tags zuvor zugedacht hatten. Uns aber war es hundsmiserabel zu Mute. Ein Entrinnen aus diesem Chaos schien unmöglich.
Trotzalledem ging die Befürchtung, dass niemand dieses Tal lebend verlassen würde, nicht in Erfüllung. Als wir uns hinter dem nächsten Waldstück wieder fanden, stellten wir fest, dass keins der Fahrzeuge und Pferde etwas abbekommen hatte. Und die Mannschaften konnten vom gleichen Glück sprechen.
Anders erging es den übrigen Truppen. Noch im Davonjagen sah ich mitten im Felde eine Feldartillerieprotze — davor ein einziges Pferd, das man hatte zurücklassen müssen, weil ihm der rechte Vorderfuß abgeschossen worden war. Traurig stand es auf seinen 3 Beinen und schaute uns wehmütig nach. Ein Anblick, der in die Seele schnitt und schließlich einen der Kameraden veranlasste, den Gaul mit einer Gnadenkugel von seinen Schmerzen zu erlösen.
Und nun erst die armen Infanteristen. Groß war die Zahl der Zurückgebliebenen, die sich nur mühselig weiterschleppten oder hilflos am Straßenrande nach Luft japsten. Die wochenlange Hetze vor und zurück hatte ihnen das letzte Herzblut aus dem Körper gepumpt.
Ihre Not packte uns an. Vielen von ihnen haben wir geholfen, indem wir unsere Plätze auf den Protzen und Fahrzeugen zur Verfügung stellten und selbst zu Fuß weitertrabten. Doch war die Nachfrage bald größer als das Angebot. So mussten wir die Letzten ihrem Schicksal überlassen.
Das Wetter war den ganzen Tag über ungünstig gewesen. Die von Zeit zu Zeit sich wiederholenden Regenschauer hatten uns ordentlich durchnässt. Als wir mitten in der Dunkelheit zur alten Marschstraße zurückkehrten, regnete es erneut in Strömen. Bei jedem Tritt quatschte das Wasser in den Stiefeln. Wir trugen schon längst keinen trockenen Faden mehr am Leibe. Wäsche und Uniform klebten am Körper fest. Kam ein Windstoß, so erschauerten wir bis auf die Knochen.
Das feindliche Feuer aber hatte sich inzwischen zum Glück beruhigt.
Wir marschierten weiter ostwärts, ohne dass uns auch nur ein Mensch in der Dunkelheit hätte sagen können, wohin der Weg führte. Um 1 Uhr nachts endlich machten wir Halt, um – in der Nähe von Cormicy – mitten auf dem Felde hinter freistehenden Strohmieten unsere Zelte aufzuschlagen. Hier rückten wir, so eng wir konnten, aneinander. Eine Pulle Cognak bewahrte uns vor größerem gesundheitlichen Schaden.
Von dem Druck, der angesichts der Aufregungen des Tages auf uns lastete, vermochte sie uns allerdings nicht zu befreien. Was half es, dass wir uns nun notdürftig geborgen fühlten? Das Verhängnis lauerte überall. Noch vor wenigen Minuten hatte es sich sein letztes Opfer mitten aus unseren Reihen geholt.
Einer der erschöpften Infanteristen war in der Dunkelheit ohne unser Wissen auf den Tragbaum eines Munitionswagens zwischen Protze und Hinterwagen geklettert. Die Müdigkeit mochte ihn übermannt haben. Als wir unerwartet querfeldein bogen und über einen Straßengraben hinwegsetzten verlor er das Gleichgewicht, stürzte ab — und wurde von den Rädern des über 50 Zentner schweren Karrens zerquetscht.
Während die Flasche in der Dunkelheit von Mann zu Mann ging, sprangen die Gedanken weiter. Wie sah es wohl draußen aus? Welch neue Überraschungen hielt uns die undurchdringliche Finsternis verborgen? Wie lange würden wir noch mit unserer nassen Kleidung in dieser primitiven Behausung hocken?
Nun, dies zweifelhafte Vergnügen war gar bald zu Ende. Die Franzosen saßen uns eklig auf der Pelle.
Um 4 Uhr morgens kam der Befehl zum sofortigen Weitermarsch. Der Wind war zum Orkan angewachsen und schlug uns den wiederbeginnenden Regen ins Gesicht. Wie Peitschenhiebe saßen die dicken, mit Hagel durchmischten Tropfen auf den Augen, so dass wir abwechselnd nur das eine oder andere riskieren konnten und mussten, um den Weg nicht unter den Füßen zu verlieren. Wir wurden von neuem völlig durchnässt.
Wie dauerten mich in diesem Augenblick die armen Gäule, die den Unbilden des Wetters noch weit schutzloser preisgegeben waren als wir.
Der nunmehrige Marsch währte bis 10 Uhr morgens. Dann erst gab es kurze Rast. Durch den anhaltenden Wind waren die Regenwolken verjagt worden. Das Wetter klärte sich überraschend zum strahlenden Sonnenschein, zum schönsten Sonntagswetter auf.
Es weiß aber der Teufel, dass im Kriege gerade der Sonntag am allerwenigsten geheiligt wird. Denn nun stehen wir wieder mitten im Gefecht. Nur wenige hundert Meter vor uns pfeifen die feindlichen Granaten und Schrapnells ihr altes Lied. Wir haben zu beiden Seiten und vor uns Feldartillerie und stehen selbst zu 2 Batterien Fußartillerie hier.
Es mag wohl sein, dass sich heute entscheiden wird, wer auf diesem Stück Land, das wir den Franzosen schon einmal abgerungen hatten, Herr bleiben soll. Unsere Truppen haben hier aber wieder eine geschlossene Front eingenommen und auch Verstärkung erhalten. So sind wir guten Mutes.
Der Rückzug soll übrigens nur erfolgt sein, um den Feind aus den Bergen zu locken und auf dem über 50 km langen Schlachtfeld von Reims zur offenen Feldschlacht zu zwingen. Die Erfolge des heutigen Tages müssen bis jetzt, halb 7 Uhr abends – schon ganz gute gewesen sein, denn wir haben nach rund 20 Schuss je Geschütz das Feuer einstellen müssen, weil wir sonst bei unserer weitesten Entfernung schon wieder vorgehende eigene Infanterie beschossen hätten.
Leider kommt für unsere Batterie soeben eine recht betrübende Nachricht.
Einer meiner ehemaligen Stubenkameraden, Kanonier K., ist auf der vorgeschobenen Beobachtung in dem ehemals feindlcihen Fort Brimont bei Reims durch Granatsplitter in den Kopf getötet worden. Der Einschuss war so winzig, dass man ihn erst nach längerem Suchen entdeckte.
Das ist ja gerade die große Gefahr der Artilleriegeschosse, dass sie in tausend Splitter und Splitterchen zerbersten und ringsum alles niederreißen können. Geht man dennoch heil aus der Misere, so hat man eben riesigen Dusel. Und so ist auch Kamerad K. Erst der zweite Tote in unserer Batterie – trotz der vielen Gefahren, die wir bereits bestehen mussten.
Für ihn erhalte ich den ehrenvollen Auftrag, am Beobachtungswagen einzuspringen. Ich tue dies mit einem gewissen Unbehagen; denn selbstverständlich ist dieser Posten mit mehr Gefahren verbunden, als mein bisheriger bei der Geschützbedienung und am Munitionswagen. Außerdem werde ich auch das Gefühl nicht los, als ob ich damit schon auf den nächsten Todeskandidaten gestempelt sei. Doch will ich auch hier auf meinen guten Stern vertrauen und hoffen, dass mich das Geschick noch eine Weile verschonen wird.
Zunächst bin ich Fernsprecher in der Batterie. Die Geschütze liegen sicher eingedeckt und erhalten jetzt kein feindliches Feuer. Wir selbst schießen bis zur äußersten Entfernung und stellen unser Feuer erst bei einbrechender Dunkelheit ein.
Zwischendurch finde ich Zeit, mein kleines Büchlein um die vorstehenden Zeilen zu bereichern.
Ehe ich aber meine Betrachtungen schließe, will ich noch kurz einer Begebenheit aus dem Rückzug der vergangenen Nacht gedenken, die einige Kameraden unseres Bataillons betrifft.
Während wir gestern Abend auf freiem Felde aufzogen, hatten diese mitsamt ihren Pferden Unterkunft in einem nahegelegenen Ort gesucht und gefunden. Ein augenscheinlicher Vorteil, der sich jedoch ins Gegenteil verkehren sollte, als wir mitten in der Nacht wieder abrückten. Der Abmarschbefehl drang bis zu ihnen nicht durch. So schliefen sie sich erst einmal gründlich aus.
Plötzlich aber wurden sie in der Morgendämmerung durch Pferdegetrappel und Stimmengewirr auf dem Platze vor ihrem Gehöft wach. Sie schauten hinaus – und trauten ihren Augen nicht.
“Feindliche Infanterie und Kavallerie marschierte zum Tor herein!”
Glücklicherweise waren die eigenen Pferde im Stalle nicht abgeschirrt. Zum Glück hatten auch die Kameraden in voller Ausrüstung geschlafen.
Zum Stall hinunter, durch die eine Hintertür hinaus, aufgeschwungen und davon — das war das Werk eines Augenblicks.
Sie hatten mehr Glück als Verstand. Die Franzosen wurden erst in letzter Minute auf diese unfreiwillige deutsche “Nachhut” aufmerksam, so dass ihre Verfolgung zu spät einsetzte und schließlich kurz vor unseren rettenden Linien aufgegeben werden musste.
Zerzaust und verstört langten die Kameraden bei uns an. Sie freuten sich wie Schneekönige, dass sie noch einmal mit knapper Not der Gefangennahme – vielleicht auch Schlimmerem – entgangen waren.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 14.9.