Ruhetag. Bad im Kanal – mit Hindernissen.
Hinweis: Dieses Tagebuch wird bewusst unzensiert veröffentlicht, weil es zeigt, wie die Menschen vor 100 Jahren dachten – und auch, wie rassistische Klischees verbreitet waren. Ich möchte meine Leserinnen und Leser darum bitten, dies bei der Lektüre zu beachten
Halb 10 Uhr vormittags: Es scheint fast, als ob man uns nach den übergroßen Anstrengungen der letzten beiden Tage etwas Ruhe gönnen will. Uns soll es recht sein – denn wir haben im Augenblick alle nur den einen Wunsch “Schlafen – und nochmals schlafen!”
Dabei werden wir anspruchslos wie unsere Vorfahren aus der Germanenzeit. Die Übermüdung lässt uns auf dem harten Lager weder Stein noch Uniform spüren. Wir liegen unter unseren Fahrzeugen und lassen uns von einer wohligen Dusselei gefangen nehmen.
Nur eins quält uns alle hier auf dem Schlachtfelde – den gesunden wie den kranken Krieger. Das ist der Durst.
Stundenlang müssen wir an unseren Geschützen — und die Verwundeten auf freiem Felde in der glühenden Sonnenhitze ausharren. Und die letzteren gehen zugrunde, weil sie keinen Tropfen über die Lippen bekommen.
Das Wasser muss für unseres ganzes Bataillon – und das sind rund 1000 Soldaten und 550 Pferde – manchmal nur aus 1 oder 2 Pumpen, hier und da auch nur aus Ziehbrunnen, entnommen werden. Mühselig winden wir Eimer für Eimer hoch. Und wenn wir unsere Behälter glücklich voll haben, schaukeln wir sie noch mindestens eine halbe Stunde durch die Gegend, ehe wir unsere Kolonne wieder erreicht haben. Oft ist der Kampf um einen Tropfen größer als der Kampf mit dem Feinde. Auch heute ist die Hitze kaum erträglich. Was wir von diesem edlen Nass heranschleppen, ist gar bald wieder verbraucht.
Viertel vor 6 Uhr abends: Unser Ruhetag ist zur Wirklichkeit geworden. Wir sind zu abgekämpft, um weiter vorgehen zu können. Aber auch die Franzosen müssen völlig erschöpft sein. Von einem Gegenangriff haben sie bisher abgesehen.
Der Ortsausgang – den wir auf unserem heutigen Streifzug durch die Gegend mit besichtigten – gab uns ein erschütterndes Bild ihrer Niederlage. Er war mit Wagen der Bagage verstopft. Alles lag wild durcheinander. Aus den Überresten einer Proviantkolonne retteten wir eine Menge Fressbares, besonders französisches Weißbrot – runde Kringel von etwa 40-50cm Durchmesser. Wir schoben uns fünf bis sechs auf beide Arme. In diesem sonderbaren Aufputz wurden wir von den Kameraden mit Halloh empfangen. Jeder wollte etwas ab haben. In wenigen Minuten waren die Leckerbissen verschwunden.
Nach diesem Magenschmaus zogen wir zu dem ganz in der Nähe befindlichen Kanal, um uns das erste Mal, seitdem wir im Felde liegen, ganz zu reinigen.
Dabei gab es einen Heidenspaß. Endlich wieder einmal in goldener Freiheit, kamen wir auf allerhand Hokus-Pokus.
In einem Lastkahn stöberten wir verschiedene alte Kleidungsstücke – teils weiblichen Geschlechts – auf, mit denen wir uns wie die Buschneger anmusterten. “Vörne kort und echen kahl!” so hiess dabei die Parole.
Bald ging es drunter drüber. Eine in das Wasser geworfene Hundehütte, auf der abwechselnd der eine und dann wieder der andere ein Ruheplätzchen suchte, tat das ihrige. Karl May hätte sich kein besseres Vorbild für seine Räubergeschichten wählen können.
Fast kam es uns vor, als wären wir gar nicht mehr im Kriege, sondern im Frieden und in Freundesland. Doch schnell sollten wir eines anderen belehrt werden.
Mitten in unser tolles Treiben fiel in dem dichten Wald, der uns zu beiden Seiten des Kanals umgab, ein Gewehrschuss – dann noch einer – und bald knallte es aus allen Ecken und Kanten.
Da war es mit unseren Heldenmut vorbei. Wir sprangen wie der Blitz uas dem Wasser, rafften die am Ufer liegenden Sachen zusammen und rannten dann Hals über Kopf davon. Einer wollte noch schneller als der andere sein. Es wäre schließlich kein Wunder gewesen, wenn wir so miteinander bis ans Ende der Welt gelaufen wären.
Doch leider war diese plötzlich mit Brettern vernagelt. Ein enges Gartentor versperrte unseren Weg. 5 Mann zugleich quetschten wir uns hindurch. Die Regeln des Anstandes waren in diesem Augenblick vergessen. Keiner fragte, wem der Vortritt gebühre.
Der Erfolg war vorauszusehen. Wir sausten samt und sonders auf die Nase und während wir unsere zerschundenen Glieder mit Mühe zusammensuchten, kamen wir auch wieder zur Besinnung.
Um uns herum war aber längst alles ruhig geworden.
So löste sich denn unter großem Gelächter und nicht minder großem Gegeiere der anderen Kameraden (von denen man noch nicht einmal wußte, ob sie vorher nicht ebenfalls mitgerannt waren) die ganze Affäre, die im Grunde genommen stark an die Heldentaten der sieben Schwaben erinnerte, in Wohlgefallen auf.
Jetzt liegen wir wieder gemütlich auf unserem alten Lagerplatz und schmöken die Pfeife, unseren treuesten Begleiter auf allen unseren Irrfahrten. Was uns die nächste Zukunft bringt, wissen wir nicht. Es heißt, dass wir noch heute Abend in Bereitschaftsstellung gehen sollen, um sofort oder vielleicht morgen beim Tagesgrauen gegen die vor uns liegende Festung La Fêre zu kämpfen.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 1.9.