1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

20.8.1917 Der Hexenkessel von Verdun

/ / 21.7.-1.11.1917 Verdun

Der Hexenkessel von Verdun. Infanterieflieger greifen ein. Unser Beobachtungsstand zusammengeschossen. Die eigene Munition restlos verpulvert. Höhe 304, Heckengrund und Toter Mann von den Franzosen gestürmt. Cumières- und Rabenwald fast kampflos besetzt. Artilleristische Abwehr durch ein einziges Feldartillerie-Geschütz. Unterkunft nach Liny verlegt.

Ich bin seit gestern abend wieder auf Beobachtung. Eben – 9 Uhr vormittags – komme ich von unserem neuen Hochstand herunter, denn der alte musste inzwischen aufgegeben werden, weil er nebst den übrigen Hochständen vom Feinde zusammengeschossen worden war.

Fürs erste haben wir Unterkunft, einige 100m rückwärts beim Messtrupp 25 gefunden.

Auch unsere Feuerstellung ist mit schwersten Kalibern, von denen einige Löcher bis zu 10m Breite und 3m Tiefe rissen, beharkt worden.

Selbst die Ruhestellung blieb nicht verschont. Etwa 10 Schuss aus weittragendem schweren Geschütz zwangen sie, Reissaus zu nehmen. Jetzt liegen Pferde und Mannschaften im Freien und ohne Dach über dem Kopf bei Liny.

Die Schlacht vor uns ist im vollen Gange.

Links, in Richtung Fort Douaumont, herrscht vollkommen klare Sicht. Beim Maastal aber wachsen dicke, weisse Gasgranaten-Wolken aus der Erde und weiter rechts sind sämtliche Täler und Höhen teils im Gas und teils im Nebel verschwunden.

Überall brodelt und kocht es wie in einem Hexenkessel. Vom “Toten Mann” bis zur “Höhe 304” wird lebhaftes Infanteriefeuer laut.

Beiderseits greifen auch Flieger in den Kampf von Mann zu Mann ein. Wir hassen sie wie die Pest. Denn, während unsere Kameraden in den Gräben ihren Blick mit gespannter Aufmerksamkeit nach vorn richten oder sich vor den Geschossen, Minen, Flammenwerfern, Maschinengewehrkugeln und sonstigem Geschmeiss ducken und in den wenigen, noch nicht eingeebneten Erdlöchern verkriechen müssen, schleichen sie plötzlich und unbemerkt von hinten an, gehen sie auf 100, ja 50m herunter und knallen erbarmungslos in ihre Reihen – auf Lebende, Verwundete — und Tote.

Schutz- und wehrlos sind ihnen die armen Sandhasen preisgegeben. Niemand kann in diesem Tumult, der schon am frühesten Morgen mit erneutem, heftigem Trommelfeuer eingeleitet wurde, etwas unternehmen, um jene hinterlistigen Gesellen herunterzuholen.

So oft ich nun bereits den Krieg, in seiner Ganzen Wut entfesselt, vor mir sah und miterlebte – sei es in Flandern, in der Champagne, am Isonzo, an der Somme oder an der Aisne – immer wieder waren die Eindrücke neu.

Und so ist es auch heute vor Verdun.

Im Forges-Walde sieht es bereits böse aus. Ein wildes Chaos von entwurzelten und geknickten Stämmen und Stumpfen grinst uns an. Die Blätter sind versengt und verdorrt, als wären wir schon mitten im Herbst.

Je weiter wir aber nach vorn kommen, desto trostloser wird das Bild. Es gibt keine Vernichtung, die vollkommener sein könnte.

Der erste Erfolg der artilleristisch ausgezeichnet vorbereiteten französischen Offensive ist in unserem Abschnitt die Eroberung der Höhe 304, des Heckengrundes und des toten Mannes. Ob sich der Feind lange seines Besitzes wird erfreuen können, ist allerdings zweifelhaft. Im Heckengrund haben bereits badische Regimenter im Gegenstoß einen Teil der verloren gegangenen Gräben zurückerobert.

Nur eins löst bei allem eine recht verzweifelte Stimmung aus: Die wenigen Batterien, die bei uns noch intakt sind, werden bald am Ende ihrer Kraft sein.

Unsere eigene Batterie sitzt seit gestern auf dem trockenen. Alles verschossen!

Wir warten von Minute zu Minute auf neue Munition. Es ist uns dabei zu Mute wie weiland Wellington in der Schlacht bei Waterloo, als er sagte: “Ich wünschte, es wäre Nacht — und die Preussen kämen!”

9 Uhr abends. Ein ereignisvoller Tag liegt hinter uns.

Die Franzosen haben ihre Erfolge bis zum Abend noch weiter ausgebaut. Während des Nachmittages konnten sie in aller Ruhe den Cumières- und Rabenwald besetzen. Bald drangen sie auch im linken Teil unseres Abschnittes in langen Reihen gegen die Höhe 265 vor.

Der spärliche Rest unserer Infanteristen war vorher nach Forges geflüchtet, so dass der Feind keinen Widerstand fand. In wahnsinniger Hast hetzten die grauen Gestalten zu den schützenden Reservegräben.

Mein eigenes Empfinden beim Betrachten dieser Dinge durch das Glas vermag ich nur schwer wiederzugeben. Das Herz drohte stillzustehen. Der Atem stockte. Immer wieder jagte der Gedanke durchs Hirn: “ Werden sie heil davonkommen?”

Wie aber mag es den armen Kerlen selbst um die Seele gewesen sein, die den Tod im Nacken spürten?

Weder an der Somme noch an der Aisne habe ich den Ansturm des Feindes in so unmittelbarer Nähe beobachten können, wie hier. Unsere Laufgräben wurden mit Handgranaten abgetastet und gesäubert und füllten sich unaufhörlich mit neuen fremden Gestalten.

Bald hatte sich ein Strom von schätzungsweise 500 Mann über das ganze Grabensystem ergossen. Kein Schuss von Seiten unserer Artillerie störte sie daran.

Der schwache Abwehrversuch eines einzigen bei Forges auf freiem Felde aufgefahrenen Feldartillerie-Geschützes brach im Handumdrehen zusammen. Von den Feldartilleristen blieben nur wenig übrig. Sie mussten dem Geschosshagel des Feindes weichen und hinkten davon, nachdem sie ihre Pflicht bis zum äußersten erfüllt hatten.

Für mich selbst aber bedeutete das Beobachten all dieser Dinge nur ein tatenloses Zuschauen aus luftiger Höhe; denn auch bis zum Abend war für unsere Batterie noch keine Munition eingetroffen.

Die Verbindungen nach den anderen Batterien waren zudem futsch. Nur mit Mühe gelang mir auf Umwegen eine kurze Positionsmeldung nach dem Gefechtsstand des Artillerie-Kommandeurs. Dass sie nicht zu Feuerüberfällen auf den Feind ausgenutzt wurde, bewies mir leider zu genau, dass auch die anderen Batterien entweder zusammengepflastert oder – gleich uns – ohne Munition waren.

 

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 21.8.