Weitermarsch über Forêt und Sovereihgné. In der Mittagssuppe Zucker statt Salz.
Halb 6 Uhr vormittags: In der vergangenen Nacht schoss die Artillerie nur vereinzelt. Dafür gab es noch kurz vor dem Schlafen gehen bei unserer 2. Batterie Gewehrfeuer – wie es sich später herausstellte allerdings nicht zwischen Freund und Feind, sondern auf eine “eigene” Patrouille.
Mein Lager in der Ackerfurche vertauschte ich diesmal mit dem Zelt. Es bot mehr Schutz gegen den kühlen Nachtwind. Trotzdem fror ich gegen Morgen ganz erbärmlich und bin nun froh, dass ich mir mit einem Becher heissen Kaffees aus der Feldküche wieder auf die Beine helfen kann. Die Morgenwäsche macht mir keine Sorge. Wasser ist nicht in der Nähe. Ich spucke in die Luft — und krieche drunter weg!
In einer Stunde soll es weitergehen.
Halb 3 Uhr nachmittags: Wir befinden uns bereits 2 Stunden auf der Höhe zwischen Forêt und Sovereighné. Um 7 Uhr vormittags verliessen wir unser Lager, marschierten den alten Weg bis Forêt zurück und bogen dann rechts ab.
Unterwegs erblickten wir einige 30,5 cm Mörser – unsere neuesten, bisher völlig geheim gehaltenen Geschütze mit furchtbarster Wirkung – denen man die Niederzwingung der vom Feinde noch besetzten Forts anscheinend allein zutraut.
Dann kam landschaftlich schöne Gegend – Berg und Tal. Der Weg war mehrfach zerstört. Die feindlichen Truppen hatten – mit Unterstützung der Bevölkerung – Hindernisse aller Art errichtet. Ihre Hoffnung, unseren Vormarsch aufzuhalten, wurde jedoch zuschanden. Unsere Pioniere waren überall am Werk. Die her und da aufgerissenen Strassen wurden wieder notdürftig ausgebessert. Meterdicke Bäume, die man zunächst quer über die Strasse gelegt hatte, waren bereits aus em Wege geräumt; in die Luft gesprengte Strassen- und Eisenbahn-Übergänge behelfsmässig wiederhergestellt, so dass nunmehr auch der schwere Kriegstross freie Bahn hat.
Und es geht überall vorwärts!
Rechts von uns ist bereits ein deutsches Lazarett errichtet. Ob sich Verwundete darin befinden, ist mir nicht bekannt. Es ist aber gut, dass für alle Fälle so schnell vorgesorgt wurde. Denn mit Verlusten müssen wir bei diesen harten Kämpfen täglich rechnen.
Beim Feind wird es nicht anders sein. Das etwa 7 k von hier entfernte Fort der Festung Lüttich, das wir gestern erfolgreich beschossen haben, steht noch immer in Flammen. Wahrscheinlich werden wir uns aber an der weiteren Belagerung dieser Festung nicht mehr beteiligen, sondern unmittelbar in die zu erwartende Feldschlacht eingreifen. Und darum heisst es vorerst wiederum “Tüchtig tippeln!”
Während des Marsches bekomme ich zufällig eine belgische Zeitung zu Gesicht, welche am 3. August in Verviers ausgegeben wurde. Sie enthält die unwahrscheinlichsten und köstlichsten Dinge über den Krieg und zugleich die Mitteilung, dass sie die letzte Ausgabe dieses Blattes sei, weil die deutschen Truppen Post, Eisenbahn und Telegraphen in Händen hätte und keinerlei Nachrichten vom Kriegsschauplatz mehr durchliessen.
Dieses Tappen im Dunkeln und Ungewissen löst auch bei uns ein eigenartiges Gefühl der Verlassenheit aus. Die nähere Umgebung, so wie wir sie mit unseren eigenen Augen erfassen, ist nunmehr unsere Welt. Von dem übrigen Getriebe erfahren wir nichts mehr.
Hoffentlich hilft die Feldpost diesem Übelstande bald ab. Ich selbst sandte heute die erste Karte nach Hause – das Gefühl der Abgeschiedenheit etwas zu erleichtern und die Sorge der Lieben daheim zu zerstreuen.
Bisher haben wir nur von dem gelebt, was wir von Deutschland aus noch in unserem Brotbeutel trugen oder inzwischen requiriert hatten. Heute morgen konnten unsere Essvorräte zum ersten Mal seit Köln wieder aufgefrischt werden. In unserer Feldküche herrscht deshalb Grossbetrieb. Es schmoren nebst Reissuppe noch Rindfleisch und 8 Hühner im Kessel. Obwohl wir bereits halb 4 Uhr nachmittags haben, wissen wir jedoch nicht, ob man uns diese kulinarischen Genüsse heute noch anvertrauen wird.
5 Uhr Nachmittags: Wir haben tatsächlich gegessen. Doch, man soll den Tag nie vor dem Abend loben! Als wir den ersten Löffel ansetzten, mussten wir zu unserem Leidwesen feststellen, dass man in der Küche noch nicht einmal gelernt hatte, das Salz von dem Zucker zu unterscheiden. Erst sahen wir einander verdutzt an – dann aber stürzten wir das Zeug mit Todesverachtung hinunter nach dem Motto “Ein guter Magen kann schliesslich alles vertragen!”
Jetzt ruhen wir uns von den Anstrengungen unseres Mittagsmahles aus.
Die Blicke schweifen umher. Überall Zerstörung und Verwüstung. Die Spuren des Krieges werden immer sichtbarer. Dicht vor uns ist eine herrschaftliche Villa von belgischen Granaten völlig zerstört worden. Einrichtung, Möbel, Betten, Wäsche, Bücher – alles liegt wild durcheinander. Der Gesamtschaden für das Land ist ungeheuer und wird in Jahrzehnten nicht gut gemacht werden können. Seien wir froh, dass sich der Krieg nicht auf deutschem Boden abspielt und wohl auch nie abspielen wird; denn unaufhaltsam schiebt sich der gewaltige Kriegstross der Deutschen weiter gen Westen. In Richtung Lüttich marschierten heute an uns vorüber: Ulanen 9, Mörser und 82er Infanterie.
Wir selbst machen erst um 9 Uhr abends Rast und beziehen, ohne ins Feuer gekommen zu sein, in einem zerschossenen Hause an der Landstrasse Quartier.
Der sternenbesäte Himmel lugt durch das zerlöchterte Dach. Ein luftiges Heim – und doch besser als ein Lager im Freien wie in den vergangenen Tagen.
Der nächste Beitrag erscheint am 15.08.