Wir sollen nach Maubeuge in Ruhe kommen. An der Aisne war alles vorbildlich.
Heute ist Ablösungstag. Bei meiner Ankunft im Lager erfahre ich als Neuigkeit, dass wir in einigen Tagen herausgezogen und nach Maubeuge in Ruhe gebracht werden sollen.
Wir werden wohl mit Wehmut an unsere schöne Zeit an der Aisne zurückdenken. Alles – Stellung, Krieg, Lager, Amusement – war vorbildlich und für Kriegsverhältnisse unübertreffbar.
Sogar mit der Verpflegung konnten wir zufrieden sein, wenn man dabei teilweise auch ganz neue Wege ging:
“Schlaf ersetzt Essen!” – so lautete in den Zeiten, in denen es etwas knapper wurde, die Parole, die sogar unseren greisen Hindenburg zum Urheber haben soll. Wir mussten dann zwangsweise bis morgens 11 Uhr im Stollen liegen bleiben und schlafen. So ersparten wir das Frühstück und wurden gerade wach, wenn die Feldküche mit dem Mittagessen anrückte.
Trieb es uns aber wirklich einmal früher vom Lager, so schmeckte uns bei dem wenig anstrengenden Dienst auch “Karo einfach, aus der Hand, geschnitten!” ganz vorzüglich — oder aber wir stillten den größten Hunger mit ein paar Zigaretten, die in dieser Hinsicht Wunder wirken und deshalb reichlich ausgegeben wurden.
Besonders gern aber werden wir uns der Stunden erinnern, die wir im nahen Sissonne verleben durften. Kino und Fronttheater mit allen Vor- und Nachzügen haben uns dort manche Aufheiterung gebracht, die uns nottat wie das tägliche Brot.
Es ist nur schade, dass man erst so spät zu dieser Erkenntnis kam. Bisher glaubten “gewisse Kreise” immer nur, “Fressen und Saufen”, dass seien die einzigen Ideale, denen “wir” nachjagten. —
Oh ja, gefressen und gesoffen, das haben wir in diesen langen vier Jahren oft und übergenug, wenn die unerhörten körperlichen Anstrengungen es erforderten — oder der Geist den Sinn dieses end- und nutzlosen Ringens nicht mehr begreifen wollte. Doch merkten wir gar bald, dass es noch lange nicht das Gleiche sei, wie “Leib und Seele durch Essen und Trinken zusammenzuhalten”; denn der Leib kam dabei wohl zu seinem Recht – aber unsere Seele fror.
Da begrüssen wir es jetzt doppelt, dass auch in anderer Hinsicht ein leichter Wandel eingetreten ist, dass sich das Vertrauensverhältnis zwischen den Offizieren und Mannschaften unserer Batterie unter dem ruhigen Gleichmaß der Dinge an der Aisne merklich gebessert hat.
Warum aber versuchte man nicht längst, auf diese oder ähnliche Weise sich die Opferfreudigkeit der Frontkämpfer zu erhalten?
Warum gab man ihnen nicht mehr als bisher Gelegenheit, sich wieder ihres eigentlichen Daseinszweckes zu erinnern?
Warum zum dritten fand man nicht Mittel und Wege, die zahllosen Volksgenossen, die seit Anbeginn dieses Krieges noch keinen Einblick in das Geschehen an der Front nahmen, endlich einmal an unsere Stelle zu setzen?
Wir wollen ihre eigenen Leiden und Sorgen nicht verkleinern. Trotzdem würden wir mit ihnen jederzeit tauschen; denn auch wir von der Front sind letzten Endes Menschen wie sie.
Auch wir sind nur ein Stück der großen Mutter Erde und brauchen einen Wechsel der Zeiten, um uns an ihm neu zu beleben.
Auch wir, die wir noch mitten im Frühling des Lebens stehen, möchten noch einmal die wärmenden Strahlen einer Sommer-Sonne spüren, bevor die Todesschatten des ewigen Winters sich über uns breiten.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 20.1.
André Gottwald
Ich habe den genannten Spruch auch etwas anders in anderen Memoiren gelesen: „Karo einfach, belegt mit Daumen und Zeigefinger.“ Gemeint ist natürlich eine Scheibe trockenen Brots.
Wolf Fischer
Ich frage mich gerade, ob dieser Tagebucheintrag so in der Urschrift von 1918 enthalten war oder ob die weiten Ausführungen in der Überarbeitung in den 30er Jahren teils als Erweiterung entstanden, weil sie inhaltlich weit weg vom Alltag gehalten sind, wie eine Rückbetrachtung und Ausblick.
Ich hatte schon manchmal das Gefühl, dass es so wirkt, als sei nachträglich was dazu gekommen, aber hier ist es irgendwie noch präsenter.
Kann mich im Gefühl auch nur irren.
Ernst Pauleit
Ich vermute das stark.