Einschließung von Paris. Marsch über Artonges, Condé en Brie, Crezancy nach Blesmes (95km von Paris). Brotmangel – desto mehr Alkohol und Käse. Das Hühnereinfangen wird verboten.
Sonntag. Die Batterie hatte gestern abend zunächst in einem gegen Fliegersicht gut gedeckten Garten Biwak aufgebracht. Auch wir an unseren Munitionswagen trugen uns mit dieser löblichen Absicht. Da wir jedoch seit Mittag nichts weiter gegessen und auch kein Stück Brot mehr vorrätig hatten, setzten wir erst einmal einen Topf mit Kartoffeln und einen anderen mit drei, noch im letzten Augenblick gefangenen Hühnern an. Um 9 Uhr war das Essen gar. Es mundete vorzüglich. Rotwein und Cognac gaben dabei Hilfsstellung.
Ehe wir’s uns aber versahen, war die Nacht hereingebrochen. Da sind wir dann von unseren Einquartierungsgedanken wieder abgekommen und haben mit Mutter Grün vorlieb genommen.
Ich musste bis 2 Uhr nachts zum Befehlsempfang beim Bataillon. Der Befehl für heute lautete:
“Die 2. Armee – also auch wir – erreicht heute zur Vorbereitung ihrer Einschließungsstellung von Paris mit der 14. Division – Front nach Westen – die Linie Chezy sur Marne – Viffort.
I. Fussa. 7 marschiert im Friedensmarsch heute 5 Uhr vormittags über Artognes, Condé en Brie, Crezancy nach Blesmes, um dort Unterkunft zu beziehen.“
Halb 10 Uhr vormittags: Wir sind bereits in Condé en Brie und warten die weiteren Dinge ab.
In der Batterie – und wohl überall – ist mal wieder großer Mangel an Brot. Gestern empfingen wir insgesamt 40 kleine Kommissbrote; das waren bei 250 Mannschaften 2 Schnitten für den Mann, also so viel wie nichts. In der Nacht wurden deshalb von unseren eigenen Leuten noch 40 Weißbrote hinzugebacken, die aber den Kohl auch nicht fettmachen werden. Da heißt es eben haushalten!
Not leiden wir ja trotzdem nicht – nur was auf der einen Seite zu wenig ist, das haben wir auf der anderen oft zuviel. Wein, Sekt und Cognac finden wir beispielsweise in jedem Hause. Unsere Fahrzeuge sind über und über damit beladen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit schütten wir uns einen hinter die Binde.
Kein Wunder, dass wir auch unter diesen Umständen nicht immer klar im Kopfe sind und auch der “Briefkasten-Gehorsam” gegenüber den Vorgesetzten hier und da ins Wanken gerät.
Vorgestern hatte sogar einer unserer Fahrer in seiner Besoffenheit einem Offizier dauernd Widerworte gegeben. Daraufhin wurde vom Batteriechef befohlen, sämtlichen Alkohol auf Nimmerwiedersehen an den Vorratswagen abzuliefern – ein Radikalmittel, mit dem wir anderen uns allerdings nicht recht einverstanden erklären konnten. Und so dachten wir “Befehl ist zwar Befehl” – aber “Schnaps braucht noch lange kein Schnaps zu sein!” Wir zapften von dem edlen Nass auf unsere Feldflaschen, soviel wir konnten. Den Rest versteckten wir im Stroh unserer Lagerstätte und nur 3 mit Wasser gefüllte Flaschen gingen an den Vorratswagen ab.
Wir konnten es beim besten Willen nicht verantworten, dass unsere Herren Vorgesetzten in die gleiche Gefahr gerieten, aus der sie uns mit vieler Mühe und Not soeben erretten wollten.
Dass wir ihnen mit unserem Schildbürgerstreich persönlich nicht wehe tun würden, war uns vollkommen klar. Sie sehen ja genau wie wir – wenn auch auf anständigere Weise – zu, dass sie nicht zu kurz kommen.
In diesem Zusammenhange konnte sich auch nur folgende kleine Geschichte ereignen, die ich festhalten muss, weil sie nach ihrem Bekanntwerden unsere Lachmuskeln nicht wenig in Bewegung gesetzt hat.
Einige Leute unserer Batterie hatten während des Marsches eine Käsefabrik entdeckt. Darob großer Jubel. So ein leckerer “Fromage de Brie” fehlte uns geradezu noch. Wir räumten die letzten Winkel unserer Fahrzeuge aus, um für schlechtere Zeiten vorzusorgen. Sogar unsere Fähnriche verschmähten diesen Leckerbissen nicht.
Nur die Offiziere brauchten auf ihn nicht so versessen zu sein. Sie hatten sich – wie schon so oft – für den Abend bei einer wohlhabenden Familie einquartiert. Der Gastgeber machte aus seiner Not eine Tugend. Eine reichgedeckte Tafel vereinigte ihn und seine ungebetenen Gäste zu “froher Runde”. Um das Bezahlen machte man sich keine Sorge.
Als aber zum Schluss noch verschiedene Pullen “Rotspohn” auf den Tisch kamen, da fühlte sich dann doch einer der Fähnriche in überquellender Dankbarkeit besonders verbunden. Er packte unvermittelt einen der “requirierten” Käse aus, um ihn dem Gastgeber zum Zeichen seiner Verehrung zu überreichen.
Und nun kam die große Überraschung. Der Franzose wurde (um das Thema fachgerecht fortzuspinnen) plötzlich “Käsebleich”. Der Stinkadores kam ihm zu bekannt vor – und siehe da, es stellte sich heraus, dass er aus seiner eigenen Fabrik stammte.
Es soll an diesem Abend viele lange Gesichter gegeben haben!
Halb 12 Uhr Mittags: Wir sind soeben in Blesmes, 4km von Château Thierry und 95km von Paris entfernt, angekommen. Wahrscheinlich bleiben wir auch diese Nacht hier.
Zu unserer Stärkung schmoren schon wieder 2 Hühnchen nebst Kartoffeln im Topf. Die Sonne brennt vom Himmel. Da wir nur wenige Schritte von der 3-4m tiefen Marne entfernt liegen, benutzen wir die Gelegenheit samt und sonders zu einem erfrischenden und wieder einmal hochnötigen Ganzbad.
7 Uhr abends: Der Braten ist fertig. Er konnte inzwischen durch zwei weitere Hühnchen ergänzt werden. Nun strahlen die Gesichter der Kanoniere im Fettglanz dieser französischen “Flügeladjutanten”.
Leider wird aber dieser Leckerbissen wohl für einige Zeit der letzte seiner Art sein, da uns heute ein Armeebefehl bekanntgegeben wurde, wonach das Einfangen von Hühnern in Zukunft verboten ist — Schade! Wir hatten doch inzwischen so schöne Übung darin erlangt. Nun stehen wir da mit unserem Talent und können es nicht mehr verwerten.
Lebensmittel dürfen überhaupt nur noch gegen Bezahlung bei den Bewohnern entnommen werden. Der Preis für 1kg Hühnerfleisch ist gleichzeitig auf 2,50 Mark und der für eine Flasche Sekt beispielsweise auf 3 Mark festgesetzt worden. Da verzichten wir einstweilen lieber, zehren von unseren Vorräten – und warten auf bessere Zeiten.
Hinweis: Um ein besseres Bild über die Kaufkraft einer Mark zu bekommen, empfiehlt sich dieser Wikipedia-Artikel.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 7.9.
HM
Nach wie vor kommt es mir extrem seltsam vor, dass Offiziere einer Invasionsarmee sich abends bei Einheimischen einquartieren und munter tafeln.
Weit weniger erstaunlich ist, dass die Versorgung der Mannschaften im Verhältnis dazu ziemlich kläglich ist.
Stefan Linder
Das ist weniger seltsam, als man denkt. Als Offizier war man kulturgebildet, und so sah man den Franzosen höheren Standes auch an. Die Tischsprache dürfte auch französisch gewesen sein, sprachen doch im Reich die gebildeten Leute oft französisch
ruedi
Wie hoch war damals der Sold von Mannschaften und Offiziere?
Peter
Allerlei Informationen über das deutsche Heer zu kaiserlichen Zeiten. Auch eine Besoldungstabelle findet man dort.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Heer_%28Deutsches_Kaiserreich%29#Lebensverh.C3.A4ltnisse_im_deutschen_Heer
O.
Im Moment lohnt es ja noch, Karten zur Marschroute zu posten. Hier ist die Karte von heute: https://goo.gl/maps/dtE8F
Schön wäre eigentlich, wenn man die Frontlinien auch irgendwie tagesaktuell in Google-Maps einblenden könnte.
Wenn ich die Lage richtig einordne, dann steht die Einheit von Pauleit am rechten Flügel der dt. 2. Armee. Einige Kilometer nördlich von Chàt. Thierry steht irgendwo die dt. 1. Armee. Und in die Lücke fluten jetzt die Entente-Truppen. Da dürfte es bald andere Sorgen als das Hühnerfangen geben…
Tanja
Herzlichen Dank für die Veröffentlichung des Tagebuchs. Der 1. Weltkrieg war mir bisher trotz vielem Gehörten und Gelesenem sehr fern, das ändert sich gerade, nachdem ich mich durch die Berichte bis hierher gelesen habe. Ab sofort habe ich den Feed abonniert.
Ein sehr faszinierendes Projekt, nochmals vielen Dank für all die Arbeit!