Abermals in der Geschützstellung. Was tut man wenn die Bedienung stiften geht?
Die Lage ist inzwischen wieder brenzlich geworden. Der Franzmann streut fast zu jeder Tagesstunde das gesamte Gelände, besonders mit seinen beliebten “Ratschern”, ab. Da das Grundwasser noch immer daran hindert, unsere Laufgräben, die nur bis Brusthöhe reichen, weiter auszubauen und Unterstände für die Mannschaften anzulegen, gibt es dann bei feindlichen Feuerüberfällen meist kein Halten mehr.
Es wäre auch Wahnsinn!
Was aber soll man tun, wenn wir – wie gestern – trotz dieses Wahnsinns in den Kampf eingreifen müssen?
Gegen eine Schlucht des Nachbarabschnittes hatte sich plötzlich ein heftiger Angriff des Feindes entwickelt. Unsere Batterie erhielt Auftrag zum flankierenden Sperrfeuer.
Kaum waren jedoch ein paar Schuss hinaus, da meldeten sich schon wieder die feindlichen “Kohlenkasten”. Sie jagten unseren Leuten einen solchen Schrecken ein, dass sie im Handumdrehen hinter dem nächsten Bergrücken verschwanden.
Ich konnte es ihnen nicht verargen. Wenn man täglich im Feuer liegt, wird die Angst um das bisschen Leben leicht größer als die Vaterlandsliebe. Die Nerven sind längst keine Stricke mehr. Schon der Abschuss eines fernen Geschützes reisst an ihnen herum – pfeift dann zum Überfluss auch noch das dazugehörige Geschoss dicht an der Nase vorbei, dann ist es “Zappenduster”.
Doch diese Einsicht half mir diesmal nicht über den Ernst der Lage hinweg. Ich hatte – wie schon so oft in den letzten Tagen dicker Luft – als Batterieoffizier die Verantwortung dafür, dass der Krieg auch von uns aus keine Unterbrechung erfuhr.
Der Feuerbefehl wurde von der Gruppe dringlich wiederholt. Hätte ich die Mannschaften erst einzeln zusammengesucht, so wäre darüber vielleicht eine kostbare Stunde verloren gegangen – vielleicht auch wäre mein Bitten und Flehen umsonst gewesen.
Was soll man denn von den Leuten erwarten, wenn selbst ein Geschützführer – ein Unteroffizier, der vor kurzem gerade noch einmal mit einem blauen Auge davon kam und nun überall den Tod grinsen sieht – schon bei den ersten feindlichen Einschlägen wie ein kleines Kind — heult?
Mir kam ein rettender Gedanke. Ich appellierte an den Ehrgeiz der Leute – nicht durch Worte, sondern durch die Tat.
Zusammen mit dem ebenfalls zurückgebliebenen Fernsprechunteroffizier H. – Einem kaum 19jährigen jungen, prächtigen Kerl – ging ich kurzentschlossen an eins der Geschütze. Wir verbesserten die grobe Seitenrichtung, soweit es unsere schwachen Kräfte erlaubten, stopften einen unserer Zuckerhüte in das Rohr und knallten drauf los.
Es war eine Freude festzustellen, wie schnell dieses Mittel wirkte. Noch ehe wir den 3. Schuss heraus hatten, war die ganze Gesellschaft wieder da. Jetzt wollte keiner mehr zurückstehen.
Ich habe mir innerlich eins gelacht – trotz der kitzlichen Situation und hoffe, dass die noch hinterher hinausgejagten 120 Geschosse unseren Infanteristen vorn eine fühlbare Erleichterung gewesen sind.
Verluste sind bei uns glücklicherweise nicht eingetreten.
Während der kurzen Abwesenheit der Bedienung hatte sich aber unmittelbar vor dem Rohr des 2. Geschützes ein Volltreffer festgesetzt, der nicht von Pappe war. Die verschiedensten Teile des Geschützes – Lafette, Räder, Schutzschild – wiesen zahlreiche Löcher auf. Würde die Bedienung in dem Geschützstand geblieben sein, so wäre kaum einer lebend davongekommen.
Nach dieser Episode sieht man es nunmehr endlich auch an höherer Stelle ein, dass unseres Bleibens hier nicht länger sein kann.
Dabei ist den Franzosen nicht einmal übelzunehmen, dass sie ein so lohnendes Ziel, wie unsere Stellung, dauernd unter Feuer halten. In jeder Geländefalte, in jedem Winkel hockt irgendeine Batterie. Sobald sich nur eine von ihnen meldet, gibt es von drüben in dieses Artillerienest Zunder, von dem dann jeder der Anwesenden etwas mit abbekommt – auch wenn er sich noch so artig verhält.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 10.9.
Wolf A. Fischer
ein wirklich spannender Eintrag über die Lage an der Front bzw. besser bei der Artillerie.
Mannschaften verlassen ihre Geschützstellungen und sind nicht durch Befehl zur Rückkehr zu bewegen, sondern nur noch durch sein tugendhaftes Beispiel.
Und er erkannte, dass ein Befehl nicht helfen würde.
Dazu hat er noch abwägendes Verständnis.
An sich muss für ihn da die Kriegsmoral fast am Ende gewesen sein, denn, wie er ja schreibt, die Artillerie war immer auch ein Schutz der eigenen Infanterie, solange die Geschützstellung besetzt ist und Munition hat.
Mag sein, dass ich es übersah, aber es kommt mir erstmals vor, dass er erstmals so drastisch über die Folgen des lang andauernden Beschusses und Krieges schreibt und von „Heulen“ spricht.
Erstaunlicher Tagebucheintrag – klingt eher wie kurz vor dem Kollaps der Front.
Und dennoch werden im Osten Schlachten gewonnen und Russland aufgeben, die dort frei werdenden Reserven im
Westen ankommen, während auf der anderen Seite die Amerikaner eintreffen werden.
Dieses Tagebuch wird immer wertvoller, was die neuen Eindrücke angeht, die es anschaulich vermitteln kann.
Ich hoffe, dass es das mal als Buch zu kaufen geben wird – vielleicht mit historischen Einordnungen, was gerade im Reich und benachbarten bzw. ganz anderen Frontabschnitten zugleich so los war. Ich fand es immer interessant, wenn Ernst über Neuigkeiten aus der Zeitung berichtete wie über den U-Boot Krieg etc.