Die Pferde, welche erst in der Ortschaft untergebracht werden sollten, sind gestern abend wieder zurückgekommen und standen die ganze Nacht bei unseren Zelten. Der Grund dazu war folgender:
Obwohl der ganze Ort von deutschen Truppen belegt war, wurde bei Einbruch der Dämmerung von 2 Einwohnern – Vater und Sohn – plötzlich auf unsere Pferde geschossen. Einige Infanteristen und Kanoniere erwiderten sofort das Feuer, und es gelang ihnen trotz der Dunkelheit, die beiden Verbrecher festzunehmen.
Der Sohn wurde kurzerhand an die Wand gestellt.
Der Vater dagegen musste die Nacht, am Geschütz angebunden und nur mit Hemd, Hose und Strümpfen bekleidet, unter freiem Himmel zubringen. Heute Morgen wurde er wieder losgelassen. Sein Hab und Gut war inzwischen von den Truppen niedergebrannt worden. Als er den Erfolg seiner Unüberlegtheit erfuhr, gebärdete er sich wie wahnsinnig.
Wecken um 5 Uhr morgens. Abmarsch um viertel nach sechs.
Viertel vor 10 erste Rast, wo, unbekannt, aber an der Strasse nach Brüssel.
Ich werde in meinen Kriegsbetrachtungen soeben gestört. Auf der Straße hält ein Wagen der Trains mit Brot. Noch ehe die beiden Kutscher zur Besinnung kommen, sind sie ihre kostbare Habe los. Für unsere Bedienung fallen bei dem Sturm 15 Brote ab. Nun sind wir wieder für einige Zeit versorgt. Man glaubt gar nicht, welche große Rolle die Brotfrage im Kriege spielt — nur, weil von diesem Zeug nie etwas aufzutreiben ist.
Um 11 Uhr vormittags setzt sich unsere Division wieder in Bewegung.
Unterwegs kehren wir in einer kleinen Wirtschaft ein, an der kurz vorher auch belgische Truppen vorbeimarschiert sind. Während wir alles, was wir darauf genießen – selbst das nach Jauche schmeckende und nur mit einer Luftpumpe ins Glas gezapfte belgische Bier ohne Kohlensäure – bezahlen, versichert uns der Wirt ganz betrübt, dass seine Landsleute die Zeche schuldigt geblieben seien.
Um 1 Uhr rasten wir zum 2. Mal. Bald darauf sind wir wieder auf den Socken. Und erst gegen 9 Uhr abends – bei einbrechender Dunkelheit – wird in Genval (Link zur französischen Wikipedia), etwa 4 Stunden von Brüssel entfernt, Halt gemacht.
Mannschaften und Pferde finden Unterkunft in einer großen Papierfabrik. Die Verquartierung geht nur langsam vonstatten. Ich suche mir deshalb auf eigene Faust Unterkommen und erhalte schließlich in dem wiederum mit Infanterie überfüllten Ort ganz am äußersten Ende ein kleines Zimmer mit Bett. — Komisch, früher habe ich in so einem dummen Ding gelegen, ohne mir etwas dabei zu denken – und jetzt bin ich beinahe verrückt darauf!
Der nächste Beitrag erscheint am 21.08.
Barbara
„Der Sohn wurde kurzerhand an die Wand gestellt.“ … und der Vater „gebärdete … sich wie wahnsinnig.“ Was nicht mal ein Monat Krieg mit jemanden macht. Andererseits liegt es nahe, dass die Kanoniere ihre Pferde mit allen Mitteln schützen müssen.
Matthias
Fast das gleiche Foto wie auf der Postkarte gibt es bei Google Streetview. Mit Zug. Das Bahnhofsgebäude und das Gebäude links davon stehen noch.
https://www.google.de/maps/@50.724601,4.516613,3a,24.9y,313.37h,90.52t/data=!3m4!1e1!3m2!1sR_CSOlZ0Fhlan7ejEOVnow!2e0
Thomas
Tolle Entdeckung! Da hat sich links im Bild ja echt kaum etwas verändert. Danke!
Rob
Sehr schöne Ergänzung!
UB
@Barbara:
Die Haager Landkriegsordnung war erst 1907 ergänzt worden, auch in einer Konkretisierung des Kombattantenstatus. Tatsächlich soll aber gerade im 1. Weltkrieg die Grenze zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten weiter verwischt worden sein. Ein interessanter Artikel auch zur Wechselwirkung der Paranioa deutscher Truppen und den Aktionen Irregulärer gerade in Belgien findet sich hier:
http://www.bpb.de/apuz/182560/der-historische-ort-des-ersten-weltkrieges-in-der-gewaltgeschichte-des-20-jahrhunderts?p=all
Selbst die Briten sahen im 1. Weltkrieg Aktionen von Nichtkombattanten als Freischärlertum an mit der Folge, dass solche Handelnden standrechtlich erschossen worden wären. Richtigerweise wären solche Nichtkombattanten wohl nach Art. 3 HLKO wie Kombattanten zu behandeln gewesen, nämlich dann nach Gefangennahme als Kriegsgefangene.
In der heutigen Zeit asymetrischer Kriege ist das gesamte Konstrukt der HLKO eh überholt.
Bettina
Seit etwa einer Woche sind die Tagebucheinträge im Präsens geschrieben. Das wirkt nun viel unmittelbarer auf den Leser. Seitdem sind für mich die 100 Jahre Zeitdifferenz fast komplett zusammengeschnurrt.
Bettina
Die Bezeichnung „Franktireur“ ist mir übrigens seit meiner Kindheit geläufig. So nannten wir in meiner Familie halblange weibliche Unterhosen. Kennt noch jemand den Ausdruck „Franktireur-Hosen“? Ich dachte früher immer, das hat was mit Röhren zu tun (ti-rör);)